Mittwoch, 19. März 2014

Interviews (24)

Heute: Der Stummfilm-Komponist

Wilfried Kaets, geboren 1961, ist Komponist, Dirigent und Interpret. Er studierte an der Robert-Schumann-Hochschule für Musik und der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Seit 1986 gilt sein besonderes Interesse dem Stummfilm. Er schuf seitdem annähernd 200 verschiedene Stummfilmvertonungen, die er in über 450 Konzerten live präsentierte. Dafür erhielt er zahlreiche Preise. 2008 war er Mitgründer des Kölner Beschwerdechors, außerdem bekleidet er eine halbe Stelle als Kölner Regionalkantor.
Wilfried Kaets lebt mit seiner Familie in Bickendorf.


Mit Wilfried Kaets treffe ich mich auf der Orgelempore der Bickendorfer Rochuskirche. Vertrautes Terrain für ihn, denn hier arbeitet er als Kantor, Chorleiter und Stummfilmmusiker.

Sie waren zuletzt im Oman. Was macht man da als Bickendorfer?

Ich war dort auf Einladung des Ministeriums für Kultur und Erziehung. Ich hatte zwei Auftritte im königlichen Opernhaus vor Schülern und Studenten mit Stummfilm und Live-Musik. Und ich habe Referate mit musikalischen Demonstrationen gehalten zu Themen wie Stummfilm, Filmdramaturgie sowie Orgel & Entertainment.

In der Stummfilm-Musikbranche gelten Sie offenbar nicht nur in Deutschland als Pionier.

Inzwischen begleite ich seit etwa 30 Jahren Stummfilme. Anfangs bin ich zu den letzten lebenden Kinoorganisten gegangen, um von ihnen zu lernen. Ich will nicht eitel sein, aber nach dem Ende der Stummfilmära war ich der Erste, der wieder regelmäßig Stummfilme in Kirchen live mit Musik präsentierte.

War Köln dafür ein gutes Pflaster?

Durch meine Arbeit als Kirchenmusiker lag es natürlich nah, die Filmvorführungen in Kirchen zu machen. Aber das Konzept und die technische Ausrüstung mussten vom obersten Chef, also Kardinal Meisner abgesegnet werden. Und in der Kirchenverwaltung war man der Meinung: Kino in der Kirche? - Nee, das lassen wir mal lieber bleiben. Der Widerstand hielt sich ziemlich lange, da musste hinter den Kulissen ordentlich gemaggelt werden. Erst Anfang der 1990er war es dann soweit, dass wir hier in St. Rochus loslegen konnten.

Welche Aufgabe hat Stummfilmmusik?

Heutzutage denkt jeder Anfänger, er könne Stummfilme begleiten. Und dann spielt er den selben Kram wie im Jazzkeller oder im Proberaum seiner Punkband. Aber Stummfilme haben ein anderes Tempo als heutige Filme, damit fängt es schon einmal an.

Meinen Sie die inhaltliche Rasanz oder die cinematographische Technik?

Ein früher Chaplin-Film läuft mit 14 Bildern pro Sekunde. Mit so einem Werk muss man sich vorher intensiv beschäftigen, das muss man als Autorität wahrnehmen, sonst wird das bestenfalls Klamauk, was man da als Musiker abliefert.

Und was passiert schlechtenstenfalls?

Stellen Sie sich ein Familientreffen vor, draußen klopft Jack the Ripper an. Wenn Sie da nicht schon den gewünschten Effekt machen, wenn am Esstisch alle die Augen aufreißen, sondern erst in die Tasten hauen, wenn in der nächsten Szene jemand außen an die Tür klopfend zu sehen ist, ist das Pfuschwerk. Ich weiß durch intensive Vorbereitung, was in zwei Sekunden geschehen wird.

Sie komponieren Stummfilmmusik. Heißt das, Sie sind strikt gegen das Improvisieren?

Keineswegs, aber man muss vorbereitet sein. Wenn Sie etwa den Showdown eines Westerns begleiten, müssen Sie wissen, dass bei 4 Minuten 10 Sekunden der Schuss fällt und jemand aus dem Sattel fliegt. Außerdem sollten Sie sich vorher darüber klar sein, ob Sie historisch oder zeitgenössisch an die Sache herangehen wollen.

Wovon hängt das ab?

Von Fragen wie: Gibt es bereits eine Originalmusik? In welchem Raum führe ich auf? Welche Ziele verfolgt der Veranstalter?

Inwiefern können diese Ziele eine Rolle spielen?

In Bochum wurde mir mal gesagt: Wir wollen hier einen Dada-Abend machen. Da meinte ich: Dada heißt Provokation, da müsst ihr euren Man-Ray-Film mit Heino unterlegen, statt bei mir eine zeitgenössische „Kunst-Musik“ zu bestellen.

Stimmt, das ist brutale Provokation.

Letztlich habe ich dann meinen damals zweijährigen Sohn auf der Bühne ein Glockenspiel zerlegen lassen und selbst mit dem Rücken zum Publikum allerlei Wahnsinn auf der Orgel getrieben.

Klingt ein bisschen nach dem „Hurz“-Sketch von Hape Kerkeling.

Genau. Das gesamte kunststudentische Publikum dachte, das ist gewollte Kunst, niemand hat sich beschwert. Hat also trotzdem nicht wirklich funktioniert mit der Provokation durch Film und Musik.

Klingt Stummfilmmusik immer nach Klassik?

Schumann oder Wagner haben relativ wenig Musik für Autoverfolgungsjagden geschrieben. Früher bediente man sich gerne bei Leuten wie Leo Kempinski, der zwischen den Weltkriegen einen großen Fundus von Kinothemen anlegte. Den konnte man regelrecht abonnieren.

Der Gute kriegt Dur-, der Böse Moll-Akkorde?

Klar, im Groben läuft das so. Wenn Sie einen Western aus den 1940ern sehen, dann ist der auf dem weißen Pferd immer der positive Held.

Kaets wechselt bei dieser Antwort an seine Orgel und liefert ein paar frei improvisierte Tonbeispiele. Einen Chaplin-Walk und eine Gefahrensituation - sehr eindrucksvoll.

Zuletzt haben Sie in Bickendorf den lange verschollenen Film „King of Kings“ aufgeführt und dafür 8.000 Notenblätter vollgeschrieben. Wer bezahlt solch eine Mammutarbeit?

Mein Filmvorführer in St. Rochus hatte die Kopie entdeckt und für 800 Dollar ersteigert. Ich wollte zunächst nur eine stummfilmtypisch kleine Fassung mit Orgel und Geräuschemacher schreiben. Aber irgendwann merkte ich, wir brauchen noch dieses und jenes Instrument. Am Ende standen hier 110 Chormitglieder, acht Solisten, 40 Streicher und zehn Schlagzeuger. Das ging finanziell nur mit Sponsoren.

Ruft man da bei seinem guten Kumpel im Vorstand der Deutschen Bank an?

Dafür schreibt man viele Anträge für Stiftungen und ähnliches. Letztlich hatten wir 16.000 Euro zusammen und mit zwei ausverkauften Vorführungen 6.000 hinzuverdient. Dadurch sind wir wohlkalkuliert mit plusminus Null aus der Sache herausgekommen.

Rechnen können Sie folglich gut?

Ich mache das ja nicht alleine. Am schwierigsten war ohnehin die Auseinandersetzung mit dem deutschen Zoll, als wir die Filmrolle hier einführen wollten: Ist die giftig? Ist die entzündlich? Ist die womöglich geklaut? Da hing viel Behördenquatsch dran, und letztlich mussten wir tatsächlich einen gewissen Betrag für die Einfuhr bezahlen.

Könnten Sie sich das Projekt nicht noch andernorts vorstellen?

Das habe ich zum Beispiel Louwrens Langevoort von der Kölner Philharmonie vorgeschlagen. Der meinte nur, er habe keine Lust, hier einen Abend mit mir allein zu sitzen.

In der Philharmonie sind Sie 2008 mit dem Kölner Beschwerdechor aufgetreten. Warum gibt es den nicht mehr?

Beschwerdechöre gingen 2005 von Finnland aus um die Welt. Das Prinzip: Laien finden sich zusammen, um ihre Probleme aus dem Alltag - verspätete Bahnen, schludrige Müllabfuhr, verfehlte Stadtplanung etc. - entspannt und nicht selten humorvoll musikalisch zu verarbeiten.

Was klein anfing, wuchs auf bis zu 120 Leute. Wir waren in der Philharmonie, in der Comedia und im feinen Hansasaal vom Historischen Rathaus. Aber irgendwann war die Luft raus. Das Besondere war der spontane, wilde Ärger und seine sofortige musikalische Umsetzung. So etwas kann man nicht ewig konservieren.

Erinnern Sie sich an Highlights?

Unter dem Titel „The worst places in Cologne“ sind wir singend durch die Unterführung zwischen Dom und Bahnhof marschiert. Und dann singend in die U-Bahn rein mit 70 Leuten, da war das heute-journal vom ZDF dabei.

Sie wohnen und arbeiten in Bickendorf. Was gibt Ihnen dieses Veedel?

Ich bin hier vor über zwanzig Jahren gelandet, weil es in St. Rochus eine freie Stelle als Kirchenmusiker gab. Ganz banal. Aber ich bin hier sehr glücklich geworden. In Bickendorf leben einfache, bodenständige Leute, die ihre Veedelsmentalität hochhalten. Hier geht man auf die Straße, in die Kneipen. Die Menschen sprechen miteinander, statt nur hier zu wohnen und die Nanny alles machen zu lassen.

Eine Bickendorfer Kneipe klingt so ähnlich wie Ihr Nachname: Kaets im Kääzmanns - das wäre doch mal was.

Haben wir letztes Jahr tatsächlich gemacht. Einen Mitsingabend mit Rock- und Popliedern, unterstützt von meinem Jugendchor und einer Profiband. Die Leute vom Kääzmanns waren zunächst skeptisch und haben uns auf einen Dienstag gelegt. Aber dann wurde es dermaßen voll, dass wir fast selbst nicht mehr ins Lokal kamen.

Um die Kneipenanalogie ein bisschen zu relativieren, sei allerdings gesagt: Das e in Kaets ist ein Dehnungsvokal, der Name wird „Kahts“ ausgesprochen.
 

Wer diese Kolumne zukünftig jeden Mittwoch zugeschickt bekommen möchte, schreibe eine Mail an thekentaenzer@netcologne.de, Stichwort: Die Köln-Kolumne.

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