Mittwoch, 27. Februar 2013

Geschichten aus 1111 Nächten (34)

Das Brüllen des Löwen

Einst kam dem heiligen Willy die Idee, sich einen riesigen Löwen unter die Kuppel seiner Kirche malen zu lassen. Man empfahl ihm den Künstler Uerig, ein schmächtiges Kerlchen aus Düsseldorf, das schon viele Löwen gemalt hatte. Einmal, so erzählte man sich, sei gar eine Mauer ins Wanken geraten, weil ein Uerig-Löwe sein Haupt geschüttelt hatte.
Als der so Gepriesene in Köln eintraf, begrüßte ihn der heilige Willy mit den Worten: „Ich möchte aber, dass mein Löwe ganz nach der Natur gemalt wird.“
„Das wird schwierig“, sagte Uerig, „denn einen echten Löwen habe ich nie gesehen. Deshalb muss ich deinen Auftrag wohl ablehnen.“
„Allerdings“, nickte Willy. „Es wäre geradezu fahrlässig, jemanden wie dich meinen Löwen malen zu lassen. Aber warum versuchst du nicht, einen zu Gesicht zu bekommen?“
„Wie sollte das möglich sein?“ fragte das Kerlchen mit großen Augen.
Daraufhin zerrte ihn der heilige Willy in seine Kirche und hob an: „Sieh dich um, hier ist alles voller Löwen.“
„Aber bei Gott! Ich sehe sie nicht.“
„Dann wirst du wohl etwas Geduld haben müssen“, sagte Willy und verließ den Maler.
Zwei Jahre brachte der kleine Düsseldorfer in der Kölner Kirche zu. Unablässig betete er zur kölschen Maria, und eines Tages stürzte er dem heiligen Willy vor die schlurfenden Füße: „Ich habe einen echten Löwen gesehen! Ich habe ihn gesehen!“
„Bist du sicher?“ fragte der heilige Willy.
„Ganz sicher. Ich habe ihn so gesehen wie jetzt dich.“
„Das ist aber schön. Ich wusste, dass du ihn eines Tages sehen würdest. Aber sag: Wie fandest du sein Brüllen?“

Löwe, nicht ganz echt

Wer diese Kolumne zukünftig jeden Mittwoch zugeschickt bekommen möchte, schreibe eine Mail an thekentaenzer@netcologne.de, Stichwort: Die Köln-Kolumne.

Keine Kommentare: