Mittwoch, 14. Dezember 2011

Straßenkämpfer (20)

Moderne Märtyrer

Mir sollte kalt sein, aber ich friere nicht. Die Augen geschlossen, mein Nacken genau auf der Schiene, vielleicht hat mich jemand so hingelegt. Der Regisseur. Ich mag es nicht, dass mein Kopf so nach hinten klappt. Die Menschen sehen mir in den Mund, sie sehen in meine Nasenlöcher, ich sehe sie nicht. Hingegossen, ich liege da wie hingegossen. Auch das Blut ist nicht echt. Die andere Schiene, meine Knöchel darauf, meine Wade. Wie ein zu kurzes Sofa, wie eine viel zu kurze Badewanne. Warum sind alle Badewannen zu kurz, ich weiß es nicht.
Die Bahn starrt mich an. Direkt vor mir, die großen Augen der U-Bahn. Ich habe die Vollbremsung im Ohr, lange her muss das sein. So gerade noch geschafft, knapp vor dem verletzten Mann zum Stehen gekommen. Auch das gehört wohl zu dieser Inszenierung, wie die Frau, die da schreit. Alle schreien. Alle schreien durcheinander, aber ich höre die Frau.
Ich blute, ganz bestimmt blute ich, das muss so sein. Aber ich bin ein Kaltbluter. Auch in Filmen, das ging mir schon immer so: Blut ist kalt, weil die Situationen kalt sind, in denen es zum Einsatz kommt. Hitziges Gefecht, kalter Tod. Ich wüsste gern, ob mir etwas wehtut. Ich würde gern ächzen, vielleicht ächze ich ja. Ich möchte mich krümmen vor Schmerzen, nur natürlich wäre das doch. Das wäre beruhigend, ich könnte mich krümmen immerhin.
Das müsste mir mal jemand bestätigen, Jawohl der Herr, Sie ächzen und krümmen sich. Aber die schreien ja alle nur rum. Für sich, für sich selbst schreien die, Zeigt mir ja keinen Spiegel, Leute. Ist besser so, ist ganz bestimmt besser so. Ganz automatisch macht man das, die Arme um den Kopf legen. Sich zusammenrollen zum Paket, so wenig Angriffsfläche wie möglich bieten. Und vor allem die Arme um den Kopf schließen, denn der ist empfindlich. Der ist wertvoll, den wollten sie treffen. Volltreffer, die wichtigen Targets, das Freispiel. Freie Hand hatten die. Alle Hände voll zu tun, alle Füße voll. Denn dann lag ich ja da. Rumms, und die Hände über den Kopf.
Die Frau schreit, ist das meine? Das ist momentan ganz schwer zu sagen. Das Spinnennetz eines Stadtplans, und von wo und mit wem man da aufgebrochen ist. Und die anderen auch, all die Menschen hier. Aufgebrochen am Morgen, irgendwann geboren worden, um genau jetzt hier zu sein. Die da oben, ich hier unten. Hingestreckt, hingerichtet, das ist ein ganz konsequentes Drehbuch. Hardboiled, aber mit sozialer Komponente. Der Ausländerjunge, die Ausländerfeinde. Der Unbeteiligte, der helfen will. Der Ich.
Zusammengeschlagen, das Wort macht mich wütend. Und wie gut diese Wut tut. Der Binnenreim eine Freude, die Wut übers Wort. Eine ganz kalte Formulierung ist das. Die entspricht nur den Tatsachen, mehr nicht. Trifft nicht den Schläger und nicht den Geschlagenen. Den schon gar nicht.
Ich bin nicht zusammengeschlagen worden.
Ich bin kleingemacht worden. Man hat mich gedemütigt.
Der Kleingemachte. Der, der seinen Körper nicht spürt, der hier nicht teilnimmt. Alle anderen nehmen teil, nehmen Anteil, nehmen sich ihren Anteil. Schreien, beschreiben, gestikulieren, tauschen sich aus. Ich kann mich nicht austauschen. Nicht mich, mich nicht mit anderen. Diese Rolle wurde mir auf den Leib geschrieben, sie gefällt mir nicht. Nur Komparse bin ich, den Text haben andere.
Dem läuft das Blut runter. Prellungen, hoffentlich ist nichts gebrochen. Hoffentlich behält der keine dauerhaften Schäden zurück. Ein Veilchen, nun gut. Das schwillt wieder ab, das schillert und verblüht, es sind die Worte, die schmerzen. Demut und Demütigen, eigentlich dürfte das gar nicht so gleich klingen. Haben nichts miteinander zu tun, diese Worte. Demut ist freiwillige Unterwerfung, Demütigen erzwungene. Höllenweiter Unterschied, der Unterschied liegt auf den Gleisen.
Es ist nicht das Veilchen, es ist der Schlag. Das Erstaunen, die Angst, der Schmerz, das Zubodengehen, die Entstellung. Die Demütigung. Nur dem Getretenen erschließt sich der Tritt. Wie ein Stück Land, da öffnet sich ein zuvor verschlossenes Wortfeld. Kurios. Der Tritt als der Schlüssel zum Treten. Als Getretener eintreten in den Bedeutungsraum des Trittes.
Worte schaffen Tatsachen im Jetzt. Schneiden sie von ihrer Vergangenheit ab. Schütten die Abgründe zu, die vor ihnen lagen. Meine Vergangenheit, die Tritte. Veilchen blühen, meine Augen sind zu. Ich möchte sie öffnen, denen allen da oben die Augen öffnen. Sagt nicht Veilchen, ich bitte Euch. Seid leise. Nehmt Euch Euren Anteil, aber tut es dezent. Reicht doch, dass ich so liege vor Euch. Reicht doch vollkommen.
Die Frau schreit, warum holt mich hier eigentlich niemand hoch? Warum berührt mich hier niemand? Ich fürchte, das muss mich beunruhigen. Das sollte mich, der ich vollkommen ruhig bin, beunruhigen. Kein Schmerz. Nicht im Nacken, der auf der Schiene liegt. Nicht im Kopf, an den Armen, zwischen den Beinen. Und nicht mehr gekrümmt, sondern hingestreckt. Nicht mehr gekrümmt, als ein Zeichen meiner Stärke will ich das nehmen. Der Nichtmehrgekrümmte, der Entspanntliegende. Jetzt schreien sie alle, wo waren die damals? Vorhin, zu diesem weit zurückliegenden Damals, als der Abgrund sich auftat. Als die Worte noch lebten. Hört das auf, habe ich gesagt, als die den schubsten. In den Arm gefasst habe ich dem einen, und dann war es schon zu spät. Rumms, dann lag ich schon da. Wo waren die alle, waren die feige? Dann wäre ich mutig gewesen, auch das ist ein Sieg. Ich sollte mich hochziehen an dem. Aufstehen, Nase abputzen und weiter.
Die sahen gar nicht so aus. Ich habe die gesehen, die standen da. Turnschuhe, Kapuzenjacken, alle drei. Und dann ging alles ganz schnell, ganz schnell, vielleicht war ja auch ich – zu schnell? Dass man vielleicht hätte abwarten sollen. Sich nicht einmischen sollen. Sind doch fast noch Kinder, diese Jungs, müssen sich ihre Hörner noch abstoßen. Alter Sack, hast aber auch gar nichts kapiert. Wolltest den Helden spielen, was? Keinen blassen Schimmer, aber den großen Mann markieren. So einer braucht dann eben ´ne Abreibung, und die hat er bekommen. Ziemlich abgerieben ist der jetzt, dem wächst so schnell kein Gras mehr. Abgeweidet, ausgeweidet.
Kein Schmerz, das ist die Demut: dass ich sehnlich den Schmerz erwarte. Die Kälte, die Wärme wenigstens. Selbst meine kleine Wut ist verebbt, keinen einzigen, winzigen Rachegedanken hat die an mein Land gespült. Das war nur so ein ganz schlappes Rinnsal, ich sollte aufstehen. Ihr müsst mir helfen, Leute. Ihr müsst mir aufhelfen, vielleicht bereitete mir das Schmerzen. Dass ich mich krümmte aufs Neu und die Worte wieder lebendig würden. Die waren in der Überzahl. Die haben mich ausgezählt, das war so abgesprochen. Hinter meinem Rücken, ich war der einzige, der hier improvisiert hat. Ich friere.



Wer diese Kolumne zukünftig jeden Mittwoch zugeschickt bekommen möchte, schreibe eine Mail an thekentaenzer@netcologne.de, Stichwort: Die Köln-Kolumne.

Keine Kommentare: