Mittwoch, 14. September 2011

Geschichten aus 1111 Nächten (12)

Der Tote und das Mädchen

In Köln streikten die Bierkutscher, und so machte sich Anton auf den so beschwerlichen wie gefährlichen Weg nach Porz, um dort ein Kölsch zu trinken. Kaum jedoch hatte ihn der Fährmann auf der anderen Seite des Flusses abgesetzt, zog dichter Nebel auf. Bald sah Anton nicht mehr die Hand vor Augen. Er fürchtete sich.
Als er endlich ein Licht erspähte, hielt er darauf zu. So gelangte er in das Haus einer jungen Diebesbande, ein bunt gemischter, schälsickiger Haufen von Mädchen und Jungen.
„Erzähl uns eine Geschichte“, forderten sie den Anton auf.
„Nichts liegt mir ferner“, rief er, „bei Gott, ich kann keine Geschichten erzählen.“
„Dann mach dich nützlich und schaufel die Latrine aus.“
Anton ging zum Klohäuschen am Rheinufer, aber gerade hatte er den Stiel gepackt, da kam eine Welle und spülte ihn hinfort. Unters Wasser wurde er gezogen, die wilden Strudel raubten ihm die Sinne.
Anton fand sich an einem Feuer wieder. Auf dem Bett lag ein Toter, neben ihm saß ein außerordentlich hübsches Weib.
„Wir brauchen einen Geiger, damit er uns ein Lied vom Ostermann spiele“, sagte einer der Trauergäste.
„Unsinn“, antwortete das Mädchen. „Denn neben mir sitzt der beste Geiger des Rheinlandes: Anton!“
„Nie und nimmer“, rief Anton, „ich kann noch nicht einmal das Wort schreiben.“
Aber im nächsten Moment hielt er eine Geige in der Hand und fidelte wie der Teufel.
„Jetzt wird es langsam Zeit für den Priester“, meinte irgendwann der selbe Mann.
„Unsinn“, entgegnete wiederum die hübsche Maid, „denn hier neben mir sitzt er doch, der trefflichste Priester im ganzen Lande: Anton.“
„Himmel hilf, nein“, rief Anton, „ich kann doch kaum das Vater Unser auswendig.“
Aber dann trug er plötzlich ein Messgewand und hielt eine dermaßen anrührende Trauerrede, dass alle Anwesenden in ein langanhaltendes Schluchzen verfielen.
Als man sich wieder gefangen hatte, wurde der Tote in seinen Sarg gelegt. Drei der Träger waren einer Größe, der vierte jedoch gut zwei Köpfe länger.
„Oh je!“ greinte da der Mann von vorhin. „Wir brauchen einen Arzt, der diesem Riesen ein Stück von den Beinen absägt.“
„Ach iwo“, sagte das Mädchen und fasste ihren Nachbarn sanft am Arm. „Hier unter uns sitzt er doch, der weltbeste Arzt: unser Anton.“
Und wiederum rief der Anton entsetzt: „Herrje, ich kann doch nicht einmal einen Schnupfen kurieren.“
Aber kaum hatte er ausgesprochen, da hielt er schon eine Säge in der Hand. Er schnitt dem zu groß gewachsenen Manne ein Stück seiner Beine heraus und setzte den Rest wieder ordnungsgemäß zusammen. Die vier Sargträger schritten nun perfekt auf einer Höhe.
Am Leinpfad entlang ging es zum Friedhof, mit dem Anton hintendrein. Plötzlich jedoch rauschte eine Welle heran, erfasste ihn und zog ihn schlingernd in den Fluss. Sofort verlor er das Bewusstsein, und viele Turbulenzen später stand er wieder an seiner Schaufel, um die Latrine auszuschachten. Als er seine Arbeit beendet hatte, schritt er zurück zum Haus und setzte sich auf seinen Platz zwischen die jungen Strauchdiebe. Der Anführer, ein frecher Kerl mit feuerroten Haaren, reichte ihm einen frisch gezapften Humpen Bier.
„Nun“, sagte er dann, „weißt du noch immer keine Geschichte zu erzählen, Anton?“

Der Rhein, ein Fluss mit Untiefen

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