Mittwoch, 8. Juni 2011

Thekentänzer (46)

Die Einbeinigen sind ausgestorben

Der Typ schielt ein bisschen und hat ein Loch auf der Nasenspitze, in das man eine Erbse stecken könnte. Also eine Linse mindestens.
„Was koss Weizn?“ fragt er, und man hört, der Laden hier ist nicht seine erste Station heute.
„Weizn koss drei Euronen“, sagt der Kellner.
„Euronen, hahaha, dasiss gut. Nehmich!“
Vorm Fenster weht der Sturm den Kleinmüll auf. Plastiktüten, Verpackungen und Blätter tanzen Polka.
„In dieser scheiß Stadt kannst du nicht mal mehr ohne Mundtuch Fahrrad fahren“, sagt Silke und hebt ihre zugepiercte Braue.
Michel, so nennt sich der Weizentrinker, nickt. Er setzt sein Glas an, behält es ewig lang an seinen Lippen. Aber als er es wieder absetzt, fehlt nur ein knapper Zentimeter Flüssigkeit.
Weizen bestellen die, die keine Kohle haben. Ist vergleichsweise am billigsten, und man muss es nicht so schnell trinken wie Kölsch. Sondern so wie Michel. In dem Tempo kann er für seine drei Euro locker ein paar Stunden hier sitzen bleiben. Und Silke anmachen.
Der Sturm weht einen lila Flyer herein, der dann unter dem Ständer eines Hochtisches stecken bleibt.
„Eine Freundin meiner Mutter ist die Treppe runtergefallen. Elle gebrochen, die Arme. Und dabei hatte die sowieso schon nur ein Auge“, sagt Silke. In ihrer Familie scheint immer jemand zu leiden.
„Die Einbeinigen sind auch ausgestorben“, sagt der Kellner.
Michel nickt, heftig und zustimmend. Er benetzt seine Lippen mit Weizenschaum und leckt sie intensiv ab.
„Kumma, ich hab ja auch zwei Jahre Platte gemacht. Wenn dus genau nimmst, drei.“
Silke ist nun ganz Ohr. Sie hat Michel in ihre Familie aufgenommen.
Der Sturm hat die Wolken mobilisiert, Regen klatscht gegen das einzige Fenster. Eine Frau mit Hund drückt ihr Gesicht gegen die Scheibe und entscheidet sich dann, weiterzugehen. Silke legt ein Bein auf den Hocker, der sie von Michel trennt.
„Eine Tante von mir“, erzählt sie, „war Verkäuferin. Da klebte mal so eine braune Flüssigkeit an einer Mango. Hat die Kundin sich beschwert. Meine Tante wischt also die Mango ab, und was glaubst du: Hat sich dabei beide Hände verätzt.“
Michel nickt, nun eher mitleidig und nachdenklich: „Agent Orange“, sagt er dann. „Und das auf ner Mango.“

Aus so manchem Einarmigen wurde ein Einbeiniger

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