Mittwoch, 8. Dezember 2010

Straßenkämpfer (15)

Irland ist pleite und beschwört den inneren Zusammenhalt. Wie das vor 130 Jahren funktionierte, zeigt der folgende, hier erstmals veröffentlichte Artikel.


Der erste Boycott

Charles Cunningham Boycott (1832-97) lebte als englischer Gutsverwalter in County Mayo, Irland. Am 23. September 1880 ging sein Name in die Geschichte ein.


Der amerikanische Journalist James Redpath und sein Freund, Pater John O´Malley aus Ballinrobe im Westen Irlands, hatten ein ländlich-üppiges Mahl hinter sich. Obwohl bei O´Malley eher das Weihwasser als der Whiskey versiegte, wirkte sein Gast heute merkwürdig verdrossen.
„Ich suche nach einem Wort“, erklärte er schließlich.
„Worum geht´s?“ fragte Pater John.
„Wenn die Leute einen gemeinen Landräuber schneiden“, begann Redpath, „dann sprechen wir von Ächtung. Aber für eine Kampagne gegen Leute wie diesen Boycott bräuchten wir etwas völlig Neues, um solche Aktionen populär zu machen. Und mir fällt, verdammt nochmal, nichts ein.“
O´Malley griff zu seinem Glas, gefüllt mit spirits, den Lebensgeistern, und sie sprachen aus ihm: „Wie wäre es, wenn wir das ´Boykottieren´ nennen würden?“

Man schrieb den 23. September 1880. Ein neues Wort war geboren, und nachdem Redpath es drei Wochen später in einem Artikel für die US-Zeitschrift Inter Ocean erstmals verwendete, schwappte es in Windeseile von den Vereinigten Staaten zurück in seine irische Heimat. Es überzog die britische Insel, den Kontinent und die halbe Welt, um die ihm vorbehaltene Nische zu füllen. Seitdem ruht es felsenfest zwischen Nachbarn wie dem Embargo, der Disqualifikation, der Ächtung und dem Streik. Aber während der Boykott heute zumeist die Isolation einzelner durch eine mächtigere Staatengemeinschaft bezeichnet, stand seine Geburt unter einem ganz anderen Stern: Es war der verzweifelte, in seinem Verlauf irrwitzige und letztlich erfolgreiche Versuch einiger Entrechteter, ihren Peiniger in die Knie zu zwingen.

James Redpath hatte sich in den USA bereits als Verfechter der Anti-Sklaverei-Kampagne einen Namen gemacht, bevor es ihn im Frühjahr 1880 nach Irland zog. Verschiedene Anzeichen deuteten darauf hin, dass sich die in Armut dahinsiechende Landbevölkerung wieder einmal erheben würde. Nicht zufällig landete Redpath im zur Provinz Connacht gehörenden County Mayo. „To Hell or Connacht“ lautet eine seit den Tagen des grausamen Cromwellschen Irlandfeldzuges gebräuchliche Redewendung. Der karge, gebirgige Landstrich nördlich der Galway Bay bietet zwar heutzutage den Touristen fotogene Motive zuhauf, aber wie eh und je kaum landwirtschaftlich nutzbare Flächen.
Ein Glücksfall bescherte dem Journalisten die Bekanntschaft des Pfarrers John O´Malley. Historischen Quellen zufolge muss man ihn sich als eine Art irischen Don Camillo vorstellen. O´Malley verschaffte dem Journalisten Zugang zum ´einfachen Volk´, bei dem er beliebt war wegen seines derben Humors, seiner Geselligkeit und der Schwäche für die Flasche. Aber Pater John war nicht nur ein gewaltiger Trinker vor dem Herrn, sondern gleichermaßen ein so treuer wie geschickter Diener desselben. Seinem italienischen Bruder ebenbürtig verstand er es, die Gedanken seiner Schäfchen zu lesen, auf fahrende Züge rechtzeitig aufzuspringen und sie auf die Gleise der Kirche zu leiten. In jenem Herbst 1880 war O´Malley der richtige Mann am richtige Platze.

Am 16. August 1879 hatte sich in Castlebar, im Herzen Mayos, die Land League gegründet. Schnell fand diese politische Vereinigung für die Interessen der Bauern und Landarbeiter Anhänger in ganz Irland. Ihr Gründer war der im beschaulichen Flecken Straide nördlich von Castlebar geborene Michael Davitt (1846-1906). Bis dahin hatte er ein klassisches irisches Schicksal des 19. Jahrhunderts durchlebt. Als er vier Jahre alt ist, wird seine Familie von ihrem Pachthof vertrieben und nach England verschlagen. Seinen Job als Spulenwechsler verliert der 11-jährige, als ihm bei einem Arbeitsunfall ein Arm abgerissen wird. Er schließt sich den paramilitärischen Fenians an, einem Vorläufer von Land League und IRA. Mit 24 Jahren wird er in London bei dem Versuch verhaftet, Waffen nach Dublin zu schmuggeln. Er landet im berüchtigten Gefängnis von Dartmoor. Weil der Einarmige nicht als Steinbrecher zu gebrauchen ist, spannt man ihn wie einen Ochsen vor den Schleppkarren. Als er Ende 1877 nach sieben Jahren auf Bewährung entlassen wird, hat Davitt der Guerilla-Taktik der Fenians abgeschworen. Seinen Einfluss als gefeierter Widerstandskämpfer nutzt er zur Gründung der Land League.

Davitt predigte zwar Gewaltfreiheit und Parlamentarismus. Dennoch kam es im Anschluss an die zahllosen Auftritte der League zuweilen zu Ausschreitungen gegen die Landlords, die protestantische Grundbesitzerkaste. Während die katholische Kirche den Umtrieben der Organisation deshalb ablehnend gegenüberstand, erkannte der einfache Landpfarrer O´Malley die Chance, die diese wiedererwachte Bereitschaft zur Auflehnung barg. In ihren Reden hatten Davitt und sein Mitstreiter Parnell ein neuartiges Mittel propagiert, das blutsaugerische Landlords der totalen Isolation ausliefern sollte. Und am Lough Mask gab es einen Mann, der diese Form der Ächtung anscheinend über die Maßen verdiente: Charles Cunningham Boycott. Gegen sein über Leichen gehendes Regiment organisierten O´Malley und Redpath jenen historisch gewordenen Feldzug gleichen Namens.

Charles Boycott, der sich seit seiner Offizierszeit bei der britischen Armee „Captain“ nennen ließ, arbeitete seit 1873 als Gutsverwalter für einen gewissen Lord Erne. Wie viele seines Schlages lebte dieser Landlord in England und finanzierte sein Nobility-Leben mit den Pachtzinsen, die sein Agent Boycott den irischen Bauern abpresste. Boycott selbst residierte in Lough Mask House, einem festungsartigen Herrschaftssitz abseits der kleinen Straße zwischen Ballinrobe und Cong. In den Pubs der Umgegend malt man noch heute das Bild des ehemaligen Agenten: ein wortkarger, verbitterter Mann, dessen Befehlston und stierer Blick nicht nur die Kinder erschauern ließ und der zur Unterstreichung seiner Autorität gern einen satten Rohrstock in der Hand wiegte.

Als im Spätsommer 1880 wieder einmal die Zeit der Zinseintreibung nahte, sahen sich elf Bauernfamilien der Erne-Ländereien außerstande, ihre Abgaben zu leisten. Die Kartoffeln, Hauptnahrungsmittel der irischen Landbevölkerung jener Zeit, waren im zweiten Jahr zwergenwüchsig geblieben. Ein Großteil war auf den Feldern verrottet. Boycott griff zum bis dahin üblichen Mittel: der Eviction, einer barbarischen Vertreibung von Haus und Hof. Auf über 90.000 schätzt man die Zahl der Evictions zwischen 1847 und 1880. Ihre Vollstreckung wurde regelrecht zelebriert. Ort und Zeit wurden – den Nachbarn zur Abschreckung, der Presse zum Schauspiel – stets vorher bekanntgegeben. Mittels Rammböcken schlug man Löcher in die Wände, stopfte die niedrigen Bruchsteinhäuser mit Stroh und Reisig und brannte sie unter den Augen der Opfer nieder. Nachdem in früheren Zeiten lediglich das Dach abgerissen worden war, hatte sich diese Methode als die effektivere erwiesen. Allzu oft hatten die Obdachlosen noch in der gleichen Nacht mit dem Wiederaufbau begonnen.

Eskortiert von mehr als zwei Dutzend Polizisten, rückte am Morgen des 22. September der örtliche Büttel aus, um Boycotts Eviction-Formulare an die säumigen Pächter zu verteilen. Drei Mal ging alles glatt, aber am vierten Hof stieß er auf ungewohnten Widerstand. Die Farmersfrau weigerte sich zu unterschreiben und schwenkte stattdessen die rote Fahne, das Alarmsignal für die Nachbarn. Während die Männer fernab auf den Feldern arbeiteten, strömten die Bäuerinnen zum Heim ihrer Leidensgenossin. In ihrem in den 1970ern verfilmten Buch „Captain Boycott and the Irish“ schildert die Historikerin Joyce Marlow, was dann geschah: „Die Frauen der Lough-Mask-Region fielen über die Polizisten her, bewarfen sie mit Dreck, Steinen und Dünger. Anstatt weiter ihrem unwürdigen Handwerk nachzugehen, nahmen die Constabler ihre Beine in die Hand und flohen zu Boycotts Anwesen. Als dieser gegen Abend heimkam, saßen die perplexen Beamten dort immer noch, und stückweise erschloss sich Boycott die Geschichte der wilden Frauenzimmer und ihres erfolgreichen Widerstands.“

Was Boycott im ersten Moment vielleicht nur ein müdes Lächeln kostete, sollte ihn bald in seiner ganzen Existenz erschüttern. Denn fortan entwickelte die Geschichte eine nicht mehr aufzuhaltende Dynamik. Noch am selben Tag erfuhr jeder schwerhörige Greis in Ballinrobe von den Geschehnissen am fünf Meilen westwärts gelegenen See. O´Malley und Redpath trommelten die Leute zusammen, beschrieben ihnen die Vorzüge jenes Verfahrens, das man bald Boykott nennen sollte, und organisierten für den kommenden Morgen einen Marsch zum Lough Mask House.
An Boycotts schmiedeeisernem Gatter trafen sie auf die ersten Bediensteten. Ohne Umstände schlossen sie sich dem Zug an. Im Verlaufe der Umtriebe vor Boycotts Domizil, die Teilnehmer als weniger aktionsreich denn lautstark beschrieben, schlugen sich auch sämtliche Hausangestellten auf die Seite der Aufständischen. Fortan rührte kein Schmied mehr einen Finger in Boycotts Ställen, keine Köchin mehr einen Löffel in seinen Töpfen. In Ballinrobe reichte ihm kein Händler mehr ein Stück Seife, kein Wirt einen Humpen Bier über die Theke. Der 12-jährige Postjunge lenkte sein Maultier nicht mehr gen Lough Mask House, und Boycotts Neffe, stattdessen nach Ballinrobe geschickt, musste bereits am Tor angesichts der dort wachenden Bauern unverrichteter Dinge wieder umkehren. Am Abend des 23. September waren Captain Charles Cunningham Boycott und seine Familie völlig isoliert – sie wurden boykottiert.

Michael Davitt und seine Land League hatten gezielt auf eine solche Eskalation hingearbeitet. Ihr binnen eines Jahres gewachsener Einfluss verdankte sich nicht zuletzt der moralischen und materiellen Unterstützung, die Freiheitsbewegungen auf dem Kontinent dem unter englischer Knute gehaltenen irischen Volk entgegenbrachten. „Wilde, die ihren durch das feuchte Klima erzeugten Durchfall mit riesigen Mengen Weinbrand zu heilen versuchen“ – so hatte noch der deutsche Barockromancier Eberhard Werner Happel die Iren beschrieben. Aber im ausgehenden 18. Jahrhundert rückte der literarische Ossianismus die gälische Mythologie ins Zentrum der aufkeimenden romantischen Volkskunde. Und nachdem die „Great Famine“, die Große Hungersnot zwischen 1845 und ´48, über eine Million Iren dahingerafft hatte, entdeckten die Jungdeutschen, schließlich auch die Kommunisten das revolutionäre Potential dieser unterdrückten Nation. „Gebt mir zweimalhunderttausend Irländer, und ich werfe die ganze britische Monarchie über den Haufen!“ frohlockte Friedrich Engels.
Wenn es auch nicht zum irisch initialisierten Aufstand der Arbeiter aller Länder reichte, so breitete sich die Land League doch immerhin bis nach Amerika aus. Michael Davitt war im Mai 1880 in den USA eingetroffen, stand der dortigen LL-Gründung vor und sammelte Spenden irischer Emigranten für den Kampf in der alten Heimat. Als er nach erfolgreicher Mission am 20. November wieder irischen Boden betritt, steht die von ihm ins Leben gerufene Bewegung kurz vor dem größten Triumph ihrer Geschichte.

In der Zwischenzeit fristeten die Boycotts das Leben ganz auf sich allein gestellter Farmer. Während Mrs. Boycott erstmals ihre Töpfe schrubbte, übte sich der Hausherr im Kühe melken und Ställe ausmisten. Auf seinen Wunsch hin war ihm mittlerweile zwar ein Kontingent Schutzpolizisten zugewiesen worden, aber jenseits des Zauns bekam er weiterhin kein Bein auf die Erde.
Sogar die örtliche Presse hielt sich dermaßen strikt an die Boykottregeln, dass das Wort womöglich nie um die Welt gezogen wäre. Wenn nicht zwei weitere Ereignisse seine rasante Ausbreitung befördert hätten. Denn am Lough Mask, jener still zwischen Waldbestand ruhenden Wasserplatte, war Schauerliches geschehen. Zwei Tage nach dem Marsch auf Boycotts Haus hatte man am Südende des Sees die von Kugeln durchsiebte Leiche eines kleineres Gutsbesitzers, Landlord Montmorres, gefunden. Wenn auch die Täter niemals ermittelt wurden, lag der Fall für die Behörden und die englandtreue Presse klar: Hier hatte die Land League ihr mörderisches Gesicht gezeigt. Und als ein völlig entmutigter Charles Boycott sich schließlich mit einem Hilferuf an die Londoner Times wandte, schwappte eine gigantische Welle protestantischer Solidarität ins County Mayo.

Dem fellow protestant Boycott, würdiger Veteran der britischen Armee, drohte die Ernte im Boden zu verfaulen, weil das irische Kroppzeug die Arbeit verweigerte. „Ein beängstigenderes Beispiel für den Triumph der Anarchie hat es in der Geschichte der Zivilisation nie gegeben“, hatte die Times Boycotts Leserbrief überschrieben. Andere Gazetten verglichen den Bauernprotest im hinterwäldlerischen Mayo mit der französischen Revolution und dem zeitgleichen Zulu-Aufstand in Südafrika. Dutzende Redaktionen wandten sich mit Spendenaufrufen an ihre Leser, Vereinigungen wie der „Boycott Relief Fund“ schossen aus dem Boden. Anfang November standen 500 Glaubensbrüder Spaten bei Fuß, um Boycotts Äcker zu retten, und gleichzeitig rüsteten sich in Dublin 1.000 Soldaten, um den Erntehelfern notfalls die Furche freizuschießen.
Der bedrängte Gutsverwalter fand derweil immerhin noch die Muße, seiner Passion, dem Pferderennen zu frönen. Als er jedoch gewahrte, was da auf ihn zukam, fiel er aus allen Wolken. Die Boycotts konnten sich kaum selbst versorgen, jeder Nagel, jeder Sack Mehl musste per Boot aus Cong unterhalb von Lough Mask beschafft werden, weil die Aufständischen sämtliche Ausfallstraßen bewachten. Ein Telegramm Boycotts verringerte die Zahl der Ulster-Freunde denn auch auf 50. Im Sonderzug rollten die zu allem entschlosenen Männer von Norden her an, während sich die britischen Truppen in mehreren Etappen durch den verregneten irischen Herbst kämpften. Ballast wie Zelte und Schlafsäcke hatten die meisten längst im knietiefen Schlamm zurückgelassen, als sie am 10. November völlig abgerissen in Ballinrobe eintrafen.

Mutete schon der Anmarsch der Helfer wenig durchdacht an, so verkam das Unternehmen vor Ort endgültig zur Farce. Boycotts schlimmste Befürchtungen bewahrheiteten sich: Binnen vierzehn Tagen war seine Ernte zwar eingefahren, aber zu einem Gutteil auch wieder verzehrt worden. Als seine Verbündeten sich am 26. des Monats mit patriotischen Treueschwüren verabschiedeten, hatten sie Boycott und die Regierung gut 10.000 Pfund gekostet. Der Erlös aus der verbliebenen Ernte betrug demgegenüber magere 350 Pfund. Boycott war bankrott.

Am nächsten Morgen, in aller Frühe, verließ er samt Familie das Land, in dem er dreißig Jahre lang die Garotte des englischen Kolonialismus bedient hatte. Zwanzig Kavalleristen begleiteten die Boycotts zur Bahnstation in Claremorris. Auf ihrem Weg blieben sie unbehelligt, aber nicht unbeobachtet. Was die Zeitzeugen sahen, war ein Flüchtling, davongejagt von ebenjenen, die er hatte vertreiben wollen; ein schwer angeschlagener Mann, der seinen Abgang passenderweise in einem militärischen Sanitätswagen vollziehen musste. Kein Geringerer als der Friedensrichter von Ballinrobe hatte im Vorfeld versucht, für die Boycotts eine angemessene Kutsche zu mieten. Es fand sich jedoch in der ganzen Stadt kein Fahrer, der auf sein Angebot auch nur reagiert hätte.



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