Mittwoch, 15. September 2010

Deutschlandreisen (1)

Helmut und ich in Aachen

Ich betrete die Aachener Innenstadt durch das Marschiertor. Genau wie in den Kölner Torburgen residiert auch hier eine Karnevalsgesellschaft. Bis zum berühmten Dom Karls des Großen sind es nur ein paar hundert Meter, aber ein heftiger Regenschauer zwingt mich in die nächste Kneipe. Sie heißt Aachener Brauhaus. Linkerhand geht es in den riesigen Speisesaal, der um diese Tageszeit noch ziemlich leer ist. Die Kellnerin trägt einen Stapel Speisekarten unter dem Arm, und bevor es zu Missverständnissen kommt, sage ich: „Ich will nur ein Bier trinken.“
„Können Sie gern hier an einem der Tische machen“, antwortet die junge Frau. „Oder Sie gehen nach nebenan in den Schankraum.“ Ihr Blick wandert zu der kleinen Quertür mit den Butzenscheiben. Hinter bunten Glasscherben sehe ich verschwommene Männergestalten und trete ohne weitere Fragen ein. Zwei Uhr, und der Laden ist voll. – Laden? Nun ja, eher handelt es sich um ein kleines Rechteck von vielleicht fünf mal zwei Metern. Hier steht man entlang der Theke oder sitzt auf dem niedrigen Bänkchen an der Wand. Die Leute, die sich hier treffen, wollen ihr Bier nicht allein trinken. Nein, die wollen gemeinsam rauchen und lachen und ihren üblichen Verzäll loswerden. Und dementsprechend muss ich auch nicht lange warten, bis ich angesprochen werde. Noch steht mein Bier nicht vor mir, da schielt der alte Kerl zu meiner Linken schon rüber.
„Da kommt man von Dortmund hierher und die setzen einem ein Sauerländer Pils vor die Nase“, sagt er mit Blick auf sein Warsteiner. Und schiebt nach: „Ich bin der Helmut.“
Angeblich ist der Helmut genau wie ich vor dem Regen geflohen, also zwangsweise hier. Aber als kurz darauf sein nächstes Pils ankommt, erhasche ich einen Blick auf seinen Deckel: Schon sechs Striche drauf, so lange regnet es noch gar nicht.
„Spricht der Aachener Platt?“ frage ich in die Runde. Gegenüber am Fenster ist es laut geworden, es scheint um Steuern zu gehen. Um die Biersteuer vielleicht.
„Nee“, sagt der dickbäuchige Bartträger rechts von mir. „Der ist Holländer. Das klingt aber tatsächlich so ähnlich wie unser Platt, ist ja auch alles nicht weit von hier.“
Und dann erklärt er mir, dass die Holländer vor allem wochenends in Aachen einfallen wie die Heuschrecken.
„Überall Holländer, man meint, die hätten bei sich außer Windmühlen nichts. Die sind beim Knipsen noch verrückter wie der Chinese. Aber sagen wir mal so: Der Aachener Dom ist ja auch wirklich was Besonderes.“
Genau, der Dom. Wegen dem bin ich ja eigentlich hier. Ich mag keine Printen, für die die Stadt genau so berühmt ist. Später, beim Kaffee auf dem Marktplatz, sehe ich an einer Ecke das Printenhaus von diesem Bühlbecker. Der Mann mit der Frisur aus Stirlingsilber, der sich auf absolut jedes Promifoto schleicht. Angeblich gibt der keine müde Mark für Werbung aus, sondern vertickt seinen Lebkuchen allein durch seine Präsenz in der Yellow Press. Bühlbecker mit Dita von Teese, Bühlbecker mit Mario Adorf und Bühlbecker in dieser Kolumne. Tja, ich bin also auch auf den reingefallen.
Dort hinter dem Rathaus findet sich im übrigen auch der berühmte Karlsbrunnen. Großer Brunnen, kleiner Karl. Die Knochen im Karlsschrein, so sie denn seine sind, weisen den Herrscher als 2,04 Meter großen Riesen aus – ein echtes Monster, zumal für das 8. Jahrhundert. Auf dem Karlsbrunnen hingegen steht ein Hampelmann von vielleicht 1,50 Metern. Machen die das, um jede Breker-Assoziation zu vermeiden? Um ja nicht in die Nähe von braunem Kolossalismus gerückt zu werden? – Also wenn es nach mir ginge, wäre der Brunnen-Charlie größer.
Oft sind es die ganz kleinen Dinge, eine scheinbare Nebensächlichkeit, die einem ein Kunstwerk näherbringen. So ein goldener Schrein wie der im Aachener Dom zum Beispiel: Der glänzt, klar! Aber ein Sahnebonbon von Werther glänzt auch (erst recht, wenn er einmal angelutscht ist). Das ist echtes Gold, kann man sich einreden, wenn man diesen Sarg sieht. Und da liegen die Gebeine Karls des Großen drin, einer der bedeutendsten Kaiser der deutschen Geschichte. Aber all das kickt nicht so richtig, denn das Gold kann man nicht anfassen und die Knochen nicht sehen. Dann jedoch erklärt die Führerin jene Figurenkonstellation auf dem westlichen Ende des Schreins. Dass da der liebe Karl riesenhaft in der Mitte thront, dass er – genau, jetzt sehe ich es auch! – selbst sitzend noch die beiden stehenden Figuren an seiner Seite überragt. Und dass der Mann zu seiner Linken der Papst sein soll: klein, unscheinbar und dazu auch noch in einer furchtbar unbequemen gebückten Haltung, die durch seine viel zu kleine Nische erzwungen wird. Karls Sarg entstand kurz nach seiner Heiligsprechung, da waren Ruhm und Ehrfurcht noch frisch. Und mit dieser figürliche Demütigung des Kirchenoberhaupts hatte jemand klar Stellung bezogen im ewigen Machtkampf zwischen Kaisern und Papsttum.
Als ich den Dom wieder verlasse, hat der Regen aufgehört. Mal sehen, ob ich irgendwo den Helmut treffe.


Karls Thron, ca. 400 Meter hinter dem Aachener Brauhaus


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