Mittwoch, 17. Dezember 2008

Coloniales (9)

Das Hochwasser von 1784

Laut Selbstauskunft auf seiner Homepage ist Bernd Nebel ein Bauingenieur aus Marburg. Gestoßen bin ich auf den Mann nach einem Besuch der Kirche Maria Lyskirchen am Rhein. Über deren Portal hängt nämlich, in rund 3,50 m Höhe, eine Hochwassermarke aus dem Jahr 1784. Man muss den Kopf in den Nacken legen, um dort hinaufzuschauen; und man muss der Phantasie freien Lauf lassen, um sich diese gigantische Katastrophe vorzustellen. Zum Glück gibt es dafür Leute wie jenen Herrn Nebel, die die entsprechende Recherche nicht nur betreiben, sondern ihre Ergebnisse zudem ins Netz stellen. Nebel ist nämlich Brückenforscher, und 1784 gingen – man kann es sich denken – zahllose Brücken zu Bruch. Ebenfalls naheliegend und dennoch zunächst überraschend: So ein extraordinäres Hochwasser beschränkt sich nicht auf einen Fluss oder auf eine Region, sondern resultiert aus europaweiten, wenn nicht globalen Klimazusammenhängen.
Im Folgenden eine Zusammenfassung von Nebels spannender Recherche:

„Die Suche nach den Ursachen der Ereignisse vom Februar 1784 beginnt bereits etwa ein Jahr vorher mit einer Reihe von geomorphologischen Aktivitäten der Erde. Diese reichten von Europa bis nach Asien und waren so heftig, dass sie in den folgenden Monaten und Jahren das Klima auf der ganzen Welt spürbar beeinflussten.
Die Aktivitäten der Erdkruste begannen am 5. Februar 1783 mit einer Serie heftiger Erdstöße in Kalabrien, deren Epizentrum etwa im Bereich der Straße von Messina lag. Besonders betroffen waren die Stadt Messina, sowie Sizilien und Kalabrien. Am folgenden Tag ereignete sich ein Nachbeben und in den darauf folgenden beiden Monaten noch mehrere kleine Erdstöße an der Westküste Italiens. Insgesamt wurden 181 Ortschaften zerstört, wobei über 30.000 Menschen ihr Leben verloren.
Etwa drei Monate später begann in Island eine Serie ungewöhnlich heftiger Vulkanausbrüche, die zu drastischen Änderungen der Lebensumstände auf der Insel führten. Die Ausbrüche begannen im Mai 1783 mit dem Eldeyjar und endeten erst im Februar 1784. Ihren Höhepunkt fanden die Eruptionen am 8. Juni 1783 mit der Öffnung der so genannten Laki-Spalte im Süden der Insel, die in den folgenden Monaten etwa 130 einzelne Vulkane freigab. Bei den folgenden Eruptionen handelt es sich um die heftigsten, jemals auf Island verzeichneten Vulkanaktivitäten und weltweit gesehen um die drittgrößte historisch verbürgte Katastrophe dieser Art. Die Krater spuckten in dieser Zeit ca. 12 Milliarden m³ Lava, Asche, Schwefeldioxyd und verschiedenster Gase aus. In historischen Dokumenten wird von mehreren hundert Meter hohen Lavafontänen berichtet. Zwei riesige Lavaströme wälzten sich in Flussbetten auf das Meer zu, wobei die beiden Flüsse vollständig verdampft wurden. Im Umkreis von ca. 40 km wurden alle menschlichen Behausungen zerstört.
In einem zeitgenössischen Bericht heißt es: "Der faule Geschmack der Luft, bitter wie Seetang und nach Fäulnis stinkend, war tagelang so intensiv, dass die Menschen kaum atmen konnten. Außerdem drang das Sonnenlicht nicht mehr durch. Alles war von Dunst eingehüllt."
Die Vulkanausbrüche hatten aber nicht nur Folgen für Island selbst, sondern für ganz Europa und noch weit darüber hinaus. Besonders davon betroffen waren England und Frankreich aber auch alle anderen Länder. Man geht davon aus, dass auf den britischen Inseln im August und September 1783 ca. 23.000 Menschen an den Folgen der Vulkanausbrüche starben, insbesondere an Vergiftungen. In England und Frankreich stieg die Sterblichkeitsrate im Winter 1783/84 um ca. 25%. In den angrenzenden Ländern dürften ähnliche Zahlen erreicht worden sein, doch gab es dort noch keine Aufzeichnungen dieser Art.
Durch die gewaltige Energie die bei den Vulkanausbrüchen freigesetzt wurde, gelangten Asche und Staubpartikel bis in die Stratosphäre und konnten sich somit beinahe auf dem ganzen Globus verteilen. Diese Staubwolken wurden in den folgenden Monaten überall auf der Welt als eine Art Dunstschleier der sich vor die Sonne schob wahrgenommen. Astronomen berichteten, dass in etwa 10.000 Fuß Höhe "große Wolken trockenen Nebels" dahin zogen.
Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass sich durch die verringerte Sonneneinstrahlung die Durchschnittstemperatur für mindestens 5 Jahre spürbar verringerte. Es kam in vielen Regionen der Erde zu Missernten und einer erheblichen Verschlechterung des Nahrungsangebotes. Die Folge waren weit verbreitete Hungersnöte und Mangelkrankheiten.
Besonders dramatische Veränderungen zeigten sich im Winter 1783/ 84. Die Kälte betraf ganz Europa, wurde aber auch in Asien und Amerika registriert. Der damalige amerikanische Präsident Benjamin Franklin verzeichnete z.B. auch im Osten der Vereinigten Staaten eine bemerkenswerte Kältewelle. Der Hafen von New York war 10 Tage lang zugefroren und der Long Island Sound konnte mit Schlitten befahren werden. Auch der anschließende Sommer war ungewöhnlich kalt und feucht. Untersuchungen an den Jahresringen von Bäumen in Sibirien und Alaska zeigten, dass der Sommer 1784 in diesen Regionen der kälteste innerhalb von 500 Jahren war.
Besonders dramatisch war der Verlauf dieses Winters aber in Deutschland und den angrenzenden Ländern. Er war außergewöhnlich kalt und schneereich und ging als einer der kältesten Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in die Geschichte ein. Die Frostperiode begann schon im November 1783 und hielt praktisch den ganzen Winter über an, bis März 1784. Die Temperaturen fielen überall in Europa auf Rekordmarken. Z.B.:
Nach wochenlanger Kälte setzte Ende Februar 1784 das Tauwetter ein. Die Temperaturen stiegen in kurzer Zeit örtlich auf zweistellige Plus-Grade an. Hinzu kam, dass während des Tauwetters heftige Regenfälle einsetzten und so die Lage noch zusätzlich verschärften. Jetzt taute überall der Schnee und bildete Sturzbäche, die sich auf die großen Flüsse zu bewegten. Das Tauwasser floss zum Teil auf den gefrorenen Eisflächen ab, gelangte aber mehr und mehr auch unter das Eis. Der Druck wurde immer größer und schließlich wurde das Eis von unten aufgesprengt.
Das Aufbrechen des Eises war ein sehr gefährlicher Moment, nicht nur weil damit das Hochwasser erst richtig in Fahrt kam, sondern weil die flussabwärts stürzenden riesigen Eisschollen alles mitrissen, was sich ihnen in den Weg stellte. Der Aufenthalt in Ufernähe, auf Brücken oder Schiffen wurde dadurch sehr gefährlich. Die Verwaltungen der Städte waren auf diesen Moment vorbereitet und signalisierten ihren Bürgern und den weiter unten liegenden Ortschaften die drohende Gefahr durch Kanonenschüsse. Wie eine Stafette liefen die Donnerschläge flussabwärts, um vor dem nahenden Unheil zu warnen.
Die Eisaufbrüche erfolgten zeitlich etwas versetzt von Westen nach Osten. Es begann am 23. Februar mit der Schelde in Belgien und Frankreich, zwei Tage später an der Maas, am 26.2. am Rhein, am 27.2. an Regnitz und Main, am 28.2. an der Elbe und am 29.2. an der Donau. Durch die ungeheuren Schmelzwassermengen in Verbindung mit dem zusätzlichen Regen entwickelte sich fast an allen Flüssen eines der größten Hochwässer der letzten 1000 Jahre. Am Rhein bei Köln sowie an Moldau und Mosel blieb es bis heute das höchste jemals gemessene Hochwasser. Die Situation wurde besonders dramatisch, wenn sich Eis und Treibgut vor den Brücken verkeilte und es dann zu einem Rückstau kam, der den Druck auf die Bauwerke noch zusätzlich verstärkte. Unzählige Brücken konnten dieser Belastung nicht standhalten und wurden schwer beschädigt bzw. zerstört.
Viele Städte wurden erheblich in Mitleidenschaft gezogen und zu großen Teilen überflutet. Besonders stark betroffen waren Köln, Bamberg, Würzburg, Heidelberg, Dresden und Prag. Aber noch viele andere Städte erlitten große Schäden, von denen sie sich lange Zeit nicht erholten.
In Köln waren die Folgen des Hochwassers besonders dramatisch und die Opferzahl entsprechend hoch. Am 27.02.1784 wurde ein Pegelstand von 13,55 m gemessen (bei einem Normalpegel von 3,48 m!). Das ist bis zum heutigen Tage der höchste jemals in Köln gemessene Wasserstand. Weite Teile der Stadt wurden unter Wasser gesetzt und viele Wohnhäuser durch Eisblöcke so groß wie voll beladene Heuwagen und Treibgut zerstört. Insgesamt 65 Kölner verloren durch das Hochwasser ihr Leben. Sämtliche Schiffe auf dem Rhein wurden von den Eismassen zerstört. Rheinbrücken gab es 1784 allerdings keine in Köln, der Verkehr über den Fluss wurde zu dieser Zeit ausschließlich mittels Fähren betrieben. Noch schlimmer als Köln traf es Mülheim auf der rechten Rheinseite, das völlig zerstört wurde.“

Wer noch mehr erfahren möchte:
www.bernd-nebel.de/bruecken/4_desaster/1784/1784.html

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